Eines Tages machte der junge Baum
sich auf, seine Wurzeln zu finden,
kam zum Gebüsch, fragte,
ob es ihm bei der Suche
nicht helfen wolle,
und warum es sich
mit seiner Größe begnüge.
Das Gebüsch wunderte sich
über das Benehmen des Baumes
und brachte seine Beständigkeit
so auf den Punkt:
„Wir sind zufrieden mit uns.
Und unsere Eltern waren auch zufrieden.
Wozu sollten wir uns da bewegen?
wir haben uns bewährt.“
Da ging der Baum in die Steppe
und wollte mit den Gräsern erörtern,
warum sie sich nicht erheben,
sondern mit flachen Wurzeln
sich beugen dem Wind,
stets auch bedroht von der Dürre.
Das Gras verstand die Frage nicht,
verneigte sich vor der Mittagshitze
und flüsterte, fast entschuldigend:
„Wir sind dafür vorgesehen,
am Boden zu bleiben.
Daran haben wir uns gewöhnt
seit Jahrmillionen.“
Lange suchte der Baum,
bevor er seine Wurzeln
mit seinesgleichen vereinigte,
mit den Jahreringen wuchs
und lernte, nicht nur für sich allein
mit dem Wind zu spielen.
copyright Götz Schubert
Lieber Götz Schubert,
Danke für die Bereitstellung dieses Textes in der „Gastlyrik“: eine Fabel in lyrischer Schreibweise. Es war mir bisher gar nicht so bewusst, dass eine Fabel derart in den Grenzbereich von Lyrik und Prosa passt, auch ohne formal lyrisch zu sein. Den Forderungen an Lyrik, wie ich sie etwas ketzerisch in meiner Theorie der Lyrik formuliert habe („Die reale Welt und die [bei den antiken Kelten geglaubte] Anderswelt lassen sich meiner Erfahrung nach mit Lyrik in Beziehung bringen und dadurch neue Welten erschaffen.“ – in https://www.maierlyrik.de/blog/theorie-der-lyrik/ ) kommt das mindestens sehr nahe.
@alle anderen LeserInnen: Götz Schubert möchte gerne, dass mit dem Bereitstellen seines Textes eine Diskussion über seine Lyrik – und unsere! – möglich wird.
Ich würde mich sehr freuen, wenn es nicht beim Austausch zwischen ihm und mir bliebe, sondern möglichst auch von Euch kommentiert wird bzw. Gedanken ausgetauscht werden.
An alle ganz herzliche Grüße
Helmut
Danke für dieses wunderbare Gedicht, an dich, lieber Helmut und natürlich an den Autor.
Auch für deine wertvollen Links auf meiner Seite danke ich dir herzlich.
Mit lieben Grüßen
Anna-Lena
Lieber Helmut und auch Götz Schubert,
es ist inhaltlich eine ansprechende Fabel!
Das Formale kommt mir sehr entgegen. Sicher hätte es in Prosaform ebenso seine Wirkung. Doch eignen sich meiner Meinung nach gerade nicht so lange Texte gut, sie in Strophen zu setzen. Hier wurde sicher nur Wesentliches verfasst, was in der Prosa jedoch mehr Ausschmückung bedurft hätte.
Es ist ein Spagat zwischen Prosa und ungereimter Lyrik, wie ich finde. Das habe ich mehrfach getan und war immer etwas unsicher. Aber warum nicht?!
..grüßt Monika
Ich danke Euch schon mal von meiner Seite aus, Anna-Lena und Monika. Ich bin schon gespannt auf Götz Schuberts Antwort.
Helmut
Hallo zusammen,
Herzlichen Dank einstweilen für die eingegangenen Kommentare, die mich auch dazu ermuntern, weiter zu schreiben. – Allerdings beziehen sie sich bis jetzt hauptsächlich auf die Form und in der Folge davon darauf, ob eine Fabel für den „Grenzbereich von Prosa und Lyrik“ passt, wie Helmut das zutreffend ausdrückt. Auch freut mich, dass dir, Anna-Lena, mein Gedicht gefällt. – Allerdings war ich nach Vorträgen immer vor allem inhaltliche Auseinandersetzungen gewohnt, obwohl ich es die von dir, Monika, erwähnte Konzentration aufs Wesentliche als ein Lob empfinde. Inhaltliche Auseinandersetzung könnte im Zusammenhang mit meinem Gedicht unter anderem heissen: Ist der Widerspruch zwischen Anpassung und Widerstand, aber auch zwischen eigener Standfestigkeit und Fähigkeit zum Widerstand bei aller Notwendigkeit zu klaren Bildern richtig „rübergekommen“? – Damit will ich allerdings nicht sagen, dass ich einer Auseinandersetzung über bestimmte Formen ausweichen wollte. Aber für mich gilt, dass sich die Form dem jeweiligen Inhalt unterodnen sollte und nicht umgekehrt, um so die Wirkung des jeweiligen Gedichts zu steigern oder erst zu ermöglichen.
Ich verspreche euch, mich demnächst mit einem anderen Gedicht zu Wort zu melden, vielleicht mit einem meiner neuesten, das in der Auseinandersetzung mit dem „Trompeter der Revolution“, Ferdinand Freiligrath das am diesjährigen Neujahrstag in einigermassen strenger Form begonnen und inzwischen fertiggestellt wurde.
Viele Grüsse einstweilen
Götz
„Ist der Widerspruch zwischen Anpassung und Widerstand, aber auch zwischen eigener Standfestigkeit und Fähigkeit zum Widerstand bei aller Notwendigkeit zu klaren Bildern richtig “rübergekommen”?“
Diese Frage wirft Dein Text sicher auf, lieber Götz. Es geht aber – wenn ich die Fabel übertragen will – eher um die Frage, ob unsere technikbestimmte Gesellschaft sich den natürlichen Grundlagen des Menschseins und des Geschöpfseins entgegenstellen darf/soll (oder nicht) als um die Frage der Anpassung (oder nicht) an die Macht der Herrschenden. Da halte ich Widerstand in der heutigen Situation für unbedingt notwendig. Der Widerstand aber gegen die natürliche Bestimmung der Menschen als Teil der Natur: die totale Unterwerfung der Natur unter menschliches Gewinn- und Prestigestreben halte ich für so unangebracht, wie es Büsche und Gräser in Deiner Fabel offenbar halten.
Soweit meine ersten Gedanken zum Inhalt aufgrund Deines Kommentars.
Liebe Grüße
Helmut