Lyrisches von Helmut Maier

Schlagwort: Theorie der Lyrik (Seite 6 von 6)

Elizabeth Alexander meint:

«Ein Gedicht kann uns eine Atempause geben, einen anderen Blick auf die Welt. Und das ist manchmal sehr nützlich, um Probleme anzugehen.»

Ich finde, das ist ein wichtiges Kriterium für Lyrik!

(Und wer ist Elizabeth Alexander? Das erfährt man hier: Netzeitung)

Gratulation

Heute wird  Claude Lévi-Strauss 100 Jahre alt.

Bei ihm fasziniert mich der Gedanke,
„dass das Denken der Angehörigen der vermeintlich „primitiven“ schriftlosen Kulturen demjenigen der Menschen in modernen Industriegesellschaften in kognitiver Hinsicht keineswegs unterlegen, sondern weitgehend lediglich auf andere Ziele gerichtet ist.“ ( Wikipedia)
„Nach Lévi-Strauss kann der Forscher durch Analyse der Mythen zu den grundlegenden Strukturen des menschlichen Denkens vorstoßen. Da jedoch die Mythen ihrerseits ein Produkt der entsprechenden Kultur sind, geben sie Informationen über die die Kultur strukturierenden Denkgesetze, welche ihrerseits durch die Struktur und die Wirkungsweise des menschlichen Gehirns bestimmt werden, die die menschlichen Ausdrucksformen strukturieren.“ (auch Wikipedia)

Ich glaube, dass das auch für die Lyrik eine große Bedeutung hat. Wir Produzenten von Lyrik müssen uns unbedingt damit auseinandersetzen, was „die grundlegenden Strukturen des menschlichen Denkens“ sind.
So wie die Mythen können Metaphern und sprachliche Symbole die Dinge in diese Strukturen einbetten.

Ich verweise auch auf das SWR2Forum.

Zugang zur Lyrik vom Traum aus

Träume sind Antworten auf das, was um uns war und ist und sein wird: Antworten auf Eindrücke von Gewesenem, Seiendem und Kommendem.  Am reichsten sind die Träume als Antworten auf Eindrücke nicht nur aus der sogenannten Realität, der realisierten, realen und in der Realität manifest werdenden, sondern auch aus der konjunktivischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer alternativen, auch möglichen, auch wirkenden, auch erscheinungsmanifesten Welt ”“ auch wenn sie ”šnur”˜ im Konjunktivischen, im Verborgenen bleibt, aber dennoch zum Erfahrungsschatz beiträgt.

Gedichte sind sprachlich verfestigte Ausflüsse solcher Antworten, die aus dem Unbewussten ins Bewusste gelangt sind, aber dabei das Geheimnis ihrer Erscheinungsformen als Träume bewahrt haben. Das ist zum Beispiel möglich in Versenkungen, Wachträumen und Visionen, aber auch in Erinnerungen an Träume im Schlaf, die nicht platt gedeutet, sondern in Empfindungen umgesetzt werden. Daher kommt wohl die Empfindlichkeit des Lyrik hervorbringenden Menschen und bedarf die Lyrik der Empfindsamkeit des sie lesenden oder hörenden Gegenübers.

Eine Gruppe der lyrischen Ausdrucksformen sind Ironie, Paradoxie und Satire. Sie werden oft als ”šnur”˜ kabarettistisch oder gar als platt abgetan und nicht als lyrische Ausdrucksmittel zugelassen oder akzeptiert. Sie sind aber eben dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht bloße Abbilder der Realität sind und auch nicht nur unreflektierte (also im Wortsinn ”šnicht einmal gespiegelte”˜) Reaktionen auf  reale, unhinterfragte und plump wiedergegebene Erlebnisse sind. Gerade aber die Qualität des Verneinens von platter Gültigkeit, der Infragestellung des Augenscheins, der Erschütterung von Feststehendem macht sie zu ebenbürtigen Partnern anderer lyrischer Ausdrucksformen.

Stammtischparolen sind davon das genaue Gegenteil. Das heißt erstens nicht, dass alles, was an Stammtischen gesprochen wird, als Stammtischparole abgetan werden kann, ach bewahre. Zweitens heißt das nicht, dass Stammtischparolen als solche gekennzeichnet nicht gerade durch die Denunzierung satirisch gespiegelt zum lyrischen Mittel werden können.

Adornos Sicht

Gerade habe ich das folgende Zitat Adornos gefunden und mich in meinen Gedanken aus „Theorie der Lyrik“ sehr bestätigt gefunden:

„Sie empfinden die Lyrik als ein der Gesellschaft Entgegengesetztes, Individuelles. Ihr Affekt hält daran fest, daß es so bleiben soll, daß der lyrische Ausdruck, gegenständlicher Schwere entronnen, das Bild eines Lebens beschwöre, das frei sei vom Zwang der herrschenden Praxis, der Nützlichkeit, vom Druck der sturen Selbsterhaltung. Diese Forderung an die Lyrik jedoch, die des jungfräulichen Wortes, ist in sich selbst gesellschaftlich. Sie impliziert den Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feindlich, fremd, kalt, bedrückend erfährt, und negativ prägt der Zustand dem Gebilde sich ein: je schwerer er lastet, desto unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es keinem Heteronomen sich beugt und sich gänzlich nach dem je eigenen Gesetz konstituiert. Sein Abstand vom bloßen Dasein wird zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem. Im Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre. Die Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Übergewalt der Dinge ist eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, der Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat.“ (S. 51f.)

Aus Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: ders.: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1981, S. 49-68    –    zitiert nach https://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/lyrik/main.htm

Der Satz „Sein Abstand [also der des lyrischen Gebildes] vom bloßen Dasein wird zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem.“ ist vielleicht etwas überpointiert, aber er ermöglicht den Einfluss des Anderswelt-Denkens und -Fühlens als Korrektiv.

Soweit ich Adorno begreife, ist mit seinem Zitat auch die Problematik von gesellschaftlich geforderter und im Wirkenwollen bei der Veränderung der Gesellschaft beanspruchter Authentizität angesprochen.

Theorie der Lyrik

Zur lyrischen Einstimmung zuerst mal ein älteres Gedicht:

Etymologie

Goldgeäst des Vergehens.
Graugeäst der Erfahrung darunter.
Vielleicht bleibt die
im Wort
als Kristallstruktur
der Kommunikations-Tools
im Speicher der Völker.

Die reale Welt und die (bei den antiken Kelten geglaubte) Anderswelt lassen sich meiner Erfahrung nach mit Lyrik in Beziehung bringen und dadurch neue Welten erschaffen. Dies ist die Grundstimmung, aus der heraus meine Lyrik entsteht. Ich verstehe sogar Lyrik überhaupt so, dass sie nicht die reale Welt, auch nicht reale Gefühle, Stimmungen usw. einfach abbildet, ohne dass Beziehungen zu anderen Welten mitspielen. Damit hat Lyrik die Funktion, Alternativen aufzuweisen und (nach-)empfinden zu lassen und zu einer besseren Welt beizutragen.

Deshalb mag ich Vergleiche mit „wie“ nicht so sehr, wenn genausogut davon ausgegangen werden kann, dass Identifikationen in den verglichenen Bildern, Gegenständen, Situationen, Begebenheiten usw. auftreten (könnten). Wenn aber davon n i c h t ausgegangen werden kann, finde ich wie-Vergleiche meistens platt.

Außerdem mag ich Reime nicht so sehr, wenn sie den Eindruck vermitteln, dass das, was sich reimt, auch stimmt, ohne dass die empfundene Wahrheit durch die lyrische Empfindung abgedeckt ist.

Das heißt aber nicht, dass ich Form für eine untergeordnete Kategorie der Lyrik halte. Die Sprache muss einen passenden Rythmus haben und einer passenden Sprachebene angehören. Das alles hängt jeweils mit den Wesensmerkmalen der zur Deckung gebrachten „Realitäten“ zusammen.

Vorläufige Schlussbemerkung: Eine unerschöpfliche Quelle der Lyrik ist übrigens die im Eingangsgedicht apostrophierte Etymologie, also die Kunde von der Herkunft der Wörter. Wie viele verschiedene Ebenen der Realität, also wie viele Welten oft in einem Wort zusammenfließen, ist für mich immer wieder faszinierend.

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