In einem windelweichen Artikel berichtet die EZ von vorgestern vom Rückgang der Krankmeldungen (so nenne ich sie). Gewiss, sie stellt schon im ersten großen Abschnitt die Frage: „Ist Job-Angst der Grund für den niedrigen Krankenstand?“ und lässt Annelie Buntenbach vom DGB entsprechend zu Wort kommen. Aber sie erklärt auch ganz objektiv, dass man das auch anders sehen könne: „Zum einen haben körperlich belastende Tätigkeiten an Bedeutung verloren. Zum anderen betreiben immer mehr Unternehmen eine aktive und systematische betriebliche Gesundheitsförderung.“, lässt sie den Arbeitgeberpräsidenten Dieter Hundt sagen.
Wenn ich die Hauptschlagzeile oben auf der ersten Seite der EZ aber mit der der taz vom gleichen Tag vergleiche, werde ich fast wütend: Die EZ jubelt geradezu: „Krankenstand auf historischem Tief“, während die taz in ihrer unvergleichlichen Weise Position bezieht:
„Angst geht arbeiten.“
ANGST GEHT ARBEITEN
ist die einzig richtige und außerordentlich wichtige Schlagzeile, die es dazu geben sollte!
Überall wird Personal eingespart. Der Umsatz ist rückläufig, die Erwartungshaltung der Geschäftsleitung bleibt hoch. Die übrig gebliebenen Arbeiter übernehmen den immer noch bestehenden Arbeitsanfall der gekündigten Kollegen. Sie arbeiten weiter, übernehmen sich auf die Dauer, die Motivation bleibt auf der Strecke, sie fühlen sich krank, warten aber lange, sehr lange, zu lange und die Angst geht arbeiten.
Das ist die eine Seite, die ich täglich sehe.
Die andere ist fast identisch:
Der Umsatz steigt wieder, doch das Personal ist ja schon abgebaut. Die Personalkosten sind gesunken…juchhu und wer bekommt die Belobigung des Chefs für die gesunkenen Kosten auf den Kostenstellen? Es sind nicht die Arbeiter, es sind leider nicht die LKW-Fahrer…
Die restlichen Kollegen überschreiten ihre Lenkzeiten, sie gehen sehr langsam aber sicher am Krückstock und wieder geht die Angst arbeiten.
Ich sehe es täglich bei Lagerarbeitern und den Fahrern, die die Ware aus dem TK-Lager zu den Kunden bringen.
Zum Ausgleich muß ich schreiben, Gedichte. Manchmal sitzt Wut in einem Gedicht und auch Hilflosigkeit.
Verzeih, lieber Helmut, daß mein Kommentar nicht sehr lyrisch geworden ist…
LG von Bruni
‚Zum anderen betreiben immer mehr Unternehmen eine aktive und systematische betriebliche Gesundheitsförderung‘ – das ist ja herrlich. Hat bestimmt in sich hineingekichert, als er das sagte …
Da ist ja vielleicht doch irgend etwas krank im System…
Man kann nur „Gesundheit“ oder „Gute Besserung“ wünschen.
Gruss, Brigitte
Man kann doch alles schönreden, wenn man will.
Die Spätfolgen von erst einmal harmlosen Krankheiten sind noch nicht abzusehen.
Gruß
Barbara
Da schreien nichts nutzt, versuche ich auf andere Art damit umzugehen. Tägliche Gespräche mit allen sind an der Tagesordnung. Ich muß aufpassen auf meine Jungs, die alle schon Männer sind. Kaum einer entzieht sich einem Gespräch. Gedes Gespräch ist es wert, geführt zu werden. Jedes Wort ist wichtig, auch wenn es manchmal nicht so scheint. Jedem Menschen muß das Gefühl vermittelt werden, daß er Achtung verdient. Ich bin sehr beschäftigt. Oft bin ich sehr müde, wenn ich nachhause komme.
LG von Bruni
Ich danke Euch allen, Ihr Lieben: Bruni, Bjoern, Brigitte und Barbara, für die guten Gedanken, die Ihr zum Thema beigesteuert habt.
Dir, Bruni, will ich noch besonders antworten, da Du Dich völlig unnötigerweise sogar entschuldigt hast, nicht lyrisch genug geantwortet zu haben. Erstens habe ich ja selbst – traditionell gesagt – „nur“ Prosa verwendet, um das gesellschaftliche Riesenmanko zu beschreiben. Aber ich will Dich gerne auch auf meine Gedanken bei „Theorie der Lyrik“ ( https://www.maierlyrik.de/blog/2007/01/01/theorie-der-lyrik/ und https://www.maierlyrik.de/blog/2007/02/20/adornos-sicht/ ) verweisen, wo ich dargestellt habe, dass es mir bei Lyrik immer um Aufzeigen von Alternativem geht, auch wenn das mal in Prosa geschieht*, weil es einem die poetische Sprache verschlägt vor dem Grässlichen der Realwelt: „Lyrik als ein der Gesellschaft Entgegengesetztes, Individuelles“ (Adorno) in diesem Sinn.
Liebe Grüße Euch allen
Helmut
* Der taz-Titel ist da mein ‚lyrischer‘ Anker, um den sich alles rankt.
Möcht‘ bloß mal wissen, wo man die „Fürsorgepflicht“ (soll es tatsächlich geben/gegeben haben) des Arbeitgebers finden soll… Für die fetten Renommierkutschen der Chefs reicht die Knete allemal, während den Nicht-VIP nicht mal ein anständiger Bürostuhl genehmigt wird.
Aber das ist nur ein kleines Übel. Nicht nennenswert! Im Grunde sieht es so aus, wie von Bruni Kantz beschrieben!
Liebe Grüße
Claudia Jo.
Ich danke Dir, Claudia, für Deine Bestätigung der Situation. Ich habe meinen Beitrag als Leserbrief an die Esslinger Zeitung geschrieben und bin mal gespannt, ob die das drucken.
Liebe Grüße
Helmut
Wie es in der schönen großen Politik halt immer ist, auf den Standpunkt kommt es an. Ob das Glas halb voll oder halb leer ist, liegt im Auge des Betrachters. Und Negativschlagzeilen sind nun mal nicht die beste Publicity für bestimmte Leute.
Ich sehe das wie Ihr, das System krankt ganz einfach. Und wie ich aus fast täglicher beruflicher Erfahrung weiß und heute privat am eigenen Leib erfahren habe, tut die Zweiklassenmedizin noch ein übriges. Denn man hat ja oft erst gar keine Gelegenheit, krank zu werden. Ich wollte heute einen Termin bei einem Facharzt vereinbaren, da ich gewissen Beschwerden abklären lassen möchte. „Ich kann Ihnen frühestens Mitte November einen Termin anbieten“, hieß es da. Sollten meine Beschwerden – was ich nicht hoffe – einen wirklich ernsten Hintergrund haben, könnte sich das Problem bis dahin schon von selbst „erledigt“ haben… Ich bin mir sicher, als privat Versicherte hätte ich in den nächsten Tagen einen Termin bekommen… Wenn ich sowas höre, wunderts mich nicht, wenn manch einer plötzlich einfach umfällt und nicht mehr aufsteht. Dann heißts nur: „Warum ist er nur nicht schon viel früher zum Arzt gegangen?“
In diesem Sinne: Auf eine robuste Gesundheit! Alles andere ist sehr gefährlich…
Liebe sunny,
Willkommen auf meinem Blog. Meiner Frau ging es neulich bei einem Facharzt mit dem Termin ähnlich wie Dir. Da wir aber als frühere StaatsdienerInnen „PrivatpatientInnen“ sind, ging es plötzlich doch schneller. Das ist für uns schon angenehm, aber trotzdem eine Sauerei erster Güte. Da stimmt was nicht im System!
Meinen Leserbrief hat die Esslinger Zeitung übrigens tatsächlich so gedruckt wie in diesem Beitrag.
Liebe Grüße
Helmut